Mit dem Alter kommen üblicherweise die Leiden, doch diese Alltagsweisheit schien Maria Branyas außer Kraft setzen zu können. Die Dame aus Katalonien war ab Januar 2023 für eineinhalb Jahre bis zu ihrem Tod am 19. August 2024 der älteste lebende Mensch der Welt. Stolze 117 Jahre und 168 Tage wurde sie alt; mit 113 Jahren hatte sie noch eine Corona-Infektion ohne weitere Komplikationen überstanden. Wissenschaftler aus Spanien um Eloy Santos-Pujol haben nun versucht, dem Geheimnis dieser robusten Langlebigkeit auf die Spur zu kommen.
Im Fachmagazin Cell Reports Medicine beschreiben die Forscher, die größtenteils für das Josep-Carreras-Institut in Barcelona arbeiten, ihren „multi-omischen“ Ansatz. Demnach wurden das Genom, Proteom, Epigenom, Metabolom und Mikrobiom der Seniorin im Detail analysiert – also Erbgut, Proteine in Blut und Gewebe, DNA-Aktivierung, Stoffwechsel und Bakterienzusammensetzung im Darm. Branyas gilt damit als am ausführlichsten untersuchter Supercentenarian der Welt, wie Menschen, die mindestens 110 Jahre alt geworden sind, genannt werden.
Maria Branyas, die zwar in San Francisco geboren wurde, aber im Alter von acht Jahren aus den USA nach Katalonien übersiedelte, wies demnach durchaus widersprüchliche biologische Merkmale auf. Ihre Entzündungswerte waren niedrig, ihr Mikrobiom war günstig zusammengesetzt, und sie verfügte über einige seltenere Genvarianten, die einem Abbau der Nervenzellen entgegenwirken und zudem das Herz schützen. Auch im Immunsystem und in ihrem Lipidprofil ließen sich mehrere protektive Faktoren nachweisen.
Branyas trank nicht, rauchte nicht, aß viel Joghurt – und hatte eine große Familie
Andererseits waren in den molekularen Analysen der Seniorin auch fortgeschrittene Alterungserscheinungen zu erkennen. So waren die als „Zündschnüre des Lebens“ bezeichneten Telomere, also die Chromosomen-Enden, sogar auffallend stark verkürzt, und die Blutbildung zeigte ebenso Anomalien wie die B-Zellen im Abwehrsystem.
Die extreme Langlebigkeit ließ sich demnach bei Maria Branyas nicht allein auf verzögerte Alterungsprozesse zurückzuführen. „Es ist vielmehr ein faszinierender Dualismus“, sagt Manel Esteller, der Leiter der spanischen Forschergruppe, laut einer Pressemitteilung. „Wir sehen gleichzeitig Signale für eine extreme Alterung, aber auch für eine gesunde Langlebigkeit.“ Die Biologie des Alterns sei also weitaus komplexer als vermutet und beruhe auf einem delikaten Gleichgewicht potenziell gegenläufiger Kräfte.
Zeitlebens litt Maria Branyas offenbar nicht an ernsthaften Krankheiten, die ihre Lebenserwartung hätten beeinträchtigen können. Für die Forscher hatte dies den Vorteil, dass sie nicht etwaige pathologische Veränderungen berücksichtigen mussten, sondern die mit den Jahren eintretenden physiologischen Abläufe wie beispielsweise die Alterung des Blutsystems und der Immunabwehr genauer untersuchen konnten.
Für Anhänger des Longevity-Trends, die ihre Hoffnungen auf einzelne Supplemente oder Superfood setzen, mag es enttäuschend sein: Aber weder im Blut noch im Speichel, Stuhl oder Urin von Branyas ließen sich eindeutige biologische Charakteristika finden, die ihr hohes Alter erklären würden. Trotzdem sind die Forscher überzeugt davon, dass die ausgewogene, gesunde Ernährung der Spanierin mit viel Joghurt, einem großen persönlichen Netzwerk – sie hatte elf Enkel und elf Urenkel – und der weitgehende Verzicht auf Konsumgifte wie Nikotin und Alkohol zu ihrem langen Leben beigetragen haben.
Ein allgemeingültiges Altersrezept bieten derartige Lebensweisen trotzdem nicht. Von Christian Mortensen, der es auf 115 Jahre brachte und als ältester Mann der Welt galt, bis er von dem Japaner Jiroemon Kimura um ein Jahr übertroffen wurde, konnte das beispielsweise „wirklich niemand erwarten“, wie der Autor John Withington in seinem Buch über das Geheimnis der Hundertjährigen schreibt. Mortensen rauchte beginnend mit seinem 20. Lebensjahr bis zu seinem Tod mehrere Zigarren pro Woche, lebte größtenteils alleinstehend und gehörte zu einer eher benachteiligten Einkommens- und Bildungsschicht. Alle diese Faktoren gelten als nicht förderlich, um ein hohes Alter zu erreichen.
Auch Jeanne Calment, die es auf 122 Jahre und 164 Tage brachte und damit bis heute den weltweiten Altersrekord hält, führte kein gesundheitlich optimiertes Leben. Die 1875 in Arles geborene und ebendort 1997 gestorbene Französin fing mit 20 Jahren zu rauchen an und versuchte erst mit 117, sich dieses Laster abzugewöhnen, was ihr nach einem Rückfall aber offenbar erst mit 119 Jahren gelang. Ansonsten habe sie sich eigenen Angaben zufolge nie um einen besonders gesunden Lebensstil gekümmert, auch wenn ihre kulinarische Vorliebe für Knoblauch, Olivenöl, Gemüse und Portwein gelegentlich betont wird. Den Maler Vincent van Gogh, dem sie im Alter von 14 Jahren in Arles begegnet war, schilderte sie als hässlich und ungepflegt.
Allgemeinen Empfehlungen für ein gesundes Leben zu folgen, kann vermutlich auf dem Weg zu einem hohen Alter nicht schaden. Gemüse und Bewegung, erholsamer Schlaf und angenehme Gesellschaft, Sinnfindung und Selbstachtung sind dafür erwiesenermaßen zuträglich, wenn man sich nicht gleichzeitig mit Nikotin, Alkohol und anderen Giftstoffen die Gesundheit ruiniert. Mindestens so vielversprechend wie Joghurt und Knoblauch scheint es aber zu sein, sich als nächste Familienangehörige Menschen auszusuchen, die möglichst alt geworden sind: Der Vater von Jeanne Calment wurde 92, ihre Mutter 86 Jahre alt, der Bruder brachte es auf 97 Jahre.