Von den schwarzen leicht gelockten Haaren ist kaum mehr etwas übrig. Kahl geschoren sitzt er auf einem weißen Plastikstuhl, schaut mit starrem, leerem Blick in die Kamera. „I am Hersh Goldberg-Polin. Son of Jonathan and Rachel“, sagt er. Seine Stirn weist Narben auf, auch sein Bart ist kürzer als noch im Oktober. Der rechte Unterarm des 24-Jährigen liegt auf der Stuhllehne, auch der linke Ellbogen. Doch dort, wo einst der linke Unterarm, die linke Hand des Linkshänders war, ist nur noch ein Stumpf.
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Für die Eltern ist das Video eine gute und zugleich schlechte Nachricht. Es ist das erste Mal seit dem 7. Oktober, dass sie ihren Sohn hören und sehen. Das erste Lebenszeichen. Er hat seine schlimme Verletzung überlebt. Aber er ist abgemagert, leer, verletzt, offensichtlich traumatisiert. Er berichtet von Hunger und Durst, davon, dass er medizinische Versorgung für seinen Arm brauche und keine Sonne zu sehen bekomme. „Dieses Video zu sehen, ist überwältigend. Wir sind erleichtert, ihn lebend zu sehen, aber wir sind besorgt um seine Gesundheit und sein Wohlergehen, genau wie um das all der anderen Geiseln und der Menschen, die in der Region leiden“, sagt sein Vater in einer ersten Reaktion.
Eine Granate zerriss den Arm von Hersh Goldberg-Polin
Hersh Goldberg-Polin feierte am 7. Oktober 2023 auf dem Supernova-Musik-Festival zusammen mit seinem besten Freund Aner Shapira, als die Terroristen in den frühen Morgenstunden einfielen. Mit 28 anderen Personen, darunter Shapira, suchte er in einem Bunker Schutz. Fotos aus dem Bunker belegen das. Immer wieder warfen, das zeigt eine Überwachungskamera, die Terroristen Granaten in den Bunker. Immer wieder warf Shapira sie zurück. Doch die achte Granate explodierte in Shapiras Hand. 19 junge Menschen, darunter Shapira, starben.
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Hersh Goldberg-Polin überlebte. Doch eine Granate, die er hinauswerfen wollte, riss seinen linken Arm unterhalb des Ellbogens ab. Zusammen mit zwei anderen jungen Männern wurde der damals 23-Jährige von den Terroristen aus dem Bunker geholt. Die anderen sieben Überlebenden schafften es, unter den Leichen unentdeckt zu bleiben. Sie trugen den Einsatz der Kindheitsfreunde an die Öffentlichkeit.
In einem von der Hamas einige Tage später veröffentlichten Video ist Hersh Goldberg-Polin mit einem notdürftig gebastelten Druckverband zu sehen, trotzdem stand der weiße Knochen hervor. Die Kleidung blutgetränkt. Hersh Goldberg-Polin stützte sich mit dem rechten Arm ab, kletterte auf die Ladefläche eines Trucks, wo eine ebenfalls verletzte Person lag, und setzte sich mit angezogenen Beinen in die Ecke, während die Terroristen die Waffen auf die beiden richteten. Als eine dritte Person auf den Truck gehoben wurde, schlugen die Terroristen mit Händen und Holzbrettern auf die Geiseln ein. Es war, bis Mittwoch, das letzte Lebenszeichen.
Auch durch seine Eltern Rachel und Jon Goldberg-Polin wurde Hersh zum Gesicht der am 7. Oktober 2023 entführten Menschen.
Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Immer wieder Gast im Weserstadion: Wie ein junger Israeli Werder-Fan wurde
Nicht nur in Israel, auch in Bremen wartet man sehnsüchtig auf die Rückkehr des 24-Jährigen. Seine Freunde bangen um sein Leben, vermissen ihn. Am Donnerstag versammelten sie sich am Marktplatz, vor dem Bremer Rathaus, und trugen Hershs Konterfei auf T-Shirts, hielten Plakate mit seinem Foto hoch. Sie fordern die Freilassung, sie wollen, dass die Menschen hinschauen.
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Die Verbindung von Hersh Goldberg-Polin und Bremen kommt über den Fußball. Goldberg-Polins Heimatverein Hapoel Jerusalem, dessen Fanszene als links gilt und immer wieder für eine Versöhnung zwischen Palästina und Israel eintrat, hat seit vielen Jahren eine aktive Fanfreundschaft mit den Ultras von Werder Bremen. Seit Jahren werden gegenseitige Besuche organisiert.
Bei Hersh Goldberg-Polin verselbstständigte sich das: Er reiste nicht mehr nur im Rahmen des Programms nach Bremen, er fand an der Weser Freunde, die er regelmäßig besuchte, und einen zweiten Lieblingsverein. Im März und Juni 2023 war er zuletzt in der Stadt und im Weserstadion. Eines der Fotos, das seine Familie nach dem 7. Oktober veröffentlichte, zeigt ihn in einem Werder-Shirt. Am Mittwochabend, nur wenige Stunden, nachdem die Hamas das neue Video von Hersh online stellte, postete Werder Bremen via X: „Wir hoffen so sehr, dass du bald wieder frei bist.“
Kaum ein Fan von Werder Bremen ist nicht berührt vom Schicksal des 24-Jährigen. Selbst jene, die den jungen Mann nicht persönlich kennen. Denn in den vergangenen Monaten entstand eine Welle der Solidarität, die ihresgleichen sucht. Sowohl Werder Bremen als Verein als auch die Fanszene sind seit dem Angriff der Hamas auf Israel unentwegt dabei, von Hersh Goldberg-Polin zu erzählen. Es gibt Spendenaktionen, Unterstützungsbekundungen und immer wieder Hinweise, Hersh und die anderen Geiseln nicht zu vergessen.
Für Werder Bremen habe außer Frage gestanden, sich nach dem Angriff der Hamas mit Israel zu solidarisieren, sagt Pressesprecher Christoph Pieper dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „,Nie Wieder‘ ist eine der Kernbotschaften. Es ist uns wichtig, dass diese nicht zur leeren Floskel wird.“
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Werder-Fans erinnern an jedem Spieltag an Hersh Goldberg-Polin und die Geiseln der Hamas
Fans und Verein veröffentlichten Suchanzeigen, posteten auf Social Media, ließen Fotos und Videos über die Videoleinwand im Weserstadion laufen. Hersh ist überall. Sein Name steht auf Plakaten, auf selbst gebastelten Herzen, auf Bannern in der Kurve. „Bring our friends back“, „Bring Them Home Now“ und „Let Them Free“ sind seit dem 7. Oktober an jedem Spieltag im Stadion zu vernehmen. Immer wieder hat der Verein auch die Kernbotschaft von Goldberg-Polins Eltern verbreitet: We Love You. Stay Strong. Survive. Wir lieben dich. Bleib stark. Überlebe.
Schon Tage nach dem 7. Oktober riefen Verein und Fans dazu auf, Hersh zu finden. Hersh Goldberg-Polin und Inbar Haiman. Die 27-Jährige, die ebenfalls auf dem Supernova Festival entführt wurde, ist Fan von Maccabi Haifa, deren Fans ebenfalls mit den Ultras von Werder eine Fanfreundschaft pflegen. Zwei Tage nachdem der Tod von Inbar Haiman in Gefangenschaft bekannt wurde, war ihr Gesicht in schwarz-weiß in der Ostkurve zu sehen. Es gab eine rote Fackel, sonst war die Kurve schwarz.
Beim Spiel gegen Leipzig verabschiedeten sich die Werder-Fans von Inbar Haimann, Fußballfan aus Haifa, die in Hamas-Geiselhaft getötet wurde.
Quelle: IMAGO/Picture Point LE
Mutter Rachel Goldberg-Polin spricht zu den Fans: Emotionale Momente im Weserstadion
Es seien viele Entführungsvideos im Umlauf gewesen und man habe die Hoffnung gehabt, dass die Geiseln erkannt werden, die Angehörigen so mehr erfahren. „Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschieden, unsere Reichweite zu nutzen, und die Suche nach diesen Personen zu teilen“, sagt Pieper. In Israel kam das an. Bei einem Heimspiel von Maccabi Haifa trug ein heimischer Fan ein Werder-Trikot. „Es ist selten, mutig und herzerwärmend zu sehen, dass Menschen außerhalb Israels auf diese Weise mit uns sympathisieren“, sagte der Fan dem Portal „Deichstube“. Keine andere Liga setze sich so für Israel ein wie die Bundesliga.
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„Wir hoffen, dass Hersh bald wieder in unseren Armen und bei seinen wunderbaren Freunden in Bremen sein wird, auf der Tribüne, um den Fußball zu feiern, den er so sehr liebt“, sagte Rachel Goldberg-Polin kürzlich in einer Ansprache an die Werder-Fans. Es war still im Bremer Weserstadion an diesem 9. März. Das Publikum, das auf das Spiel wartete, lauschte einer Mutter, die um ihren Sohn fürchtet. Sie hatte mit schwarzem Stift 151 auf ein weißes Klebeband geschrieben, das auf ihrer linken Brust klebte. Am Tag, an dem sie das Video aufnahm, war ihr Sohn 151 Tage entführt.
Während Fotos der Entführten auf der Leinwand zu sehen sind, fordert die Bremer Ostkurve, die Geiseln nach Hause zu holen – insbesondere Hersh (rotes Herz) und Inbar (grünes Herz).
Quelle: IMAGO/osnapix
Als Hershs Familie den US-Präsidenten und den Papst traf
Rachel Goldberg-Polin ist eine der aktivsten Opfer-Angehörigen und wurde weltweit zur Fürsprecherin der Geiseln. Denn auch 202 Tage nach dem Hamas-Angriff werden noch mehr als 130 Menschen, davon einige getötet oder verstorben, in Gaza gefangengehalten. Goldberg-Polin reiste um die Welt, sprach mit US-Präsident Joe Biden, traf den Papst in Rom, organisierte Demonstrationen und sprach dort, hielt eine bewegende Rede vor den Vereinten Nationen in Genf und New York.
Auch wenn Verzweiflung, Wut, Angst und Trauer riesig sind, wird sie nicht müde, über „meinen Hersh“ zu erzählen. Die Menschen sollen sich sein Gesicht einprägen, sollen seine Geschichte kennen, sollen ihn nicht vergessen. Im März 2000 wurde er in den USA geboren, zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden jüngeren Schwestern zog er 2008 nach Israel. Gemeinsam lebt die Familie in Jerusalem.
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In einem Beitrag für CNN führten die Eltern durch Hershs Kinderzimmer. Bücher von Paulo Coelho stehen im Schrank, „The Art of Happiness“ vom Dalai Lama liegt auf dem Nachttisch. In der Ecke steht ein Globus – Ende Dezember wollte der junge Mann eine Weltreise starten, für die er lange gespart hatte. Start sollte in Indien sein. Das Flugticket war gekauft. Eine Flagge der Brigade Malcha, den Ultras von Hapoel Jerusalem, hängt über seinem Bett. Tür und der Kleiderschrank sind voller Sticker der Brigade Malcha, von Hapoel Jerusalem, von Werder Bremen. An der Wand hängen Schals, ebenfalls von Werder Bremen.
„Time Magazine“ kürt Rachel Goldberg-Polin zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres
Es ist wohl kein Zufall, dass die Hamas nun ausgerechnet Hersh Goldberg-Polin vor die Kamera zerren. Sie wissen, dass seine Eltern die Stimmen der Entführten sind, dass sie ein großes Netzwerk aufgebaut haben, zu dem unter anderem auch US-Schauspielerin Selma Blair gehört, dass sie nicht müde werden, Demonstrationen zu organisieren und bei den Mächtigen vorzusprechen.
Am Mittwochabend, kurz nach Veröffentlichung des neuen Hamas-Videos, demonstrierten Angehörige und Freunde von Hersh Goldberg-Polin in seiner Heimatstadt Jerusalem.
Quelle: IMAGO/UPI Photo
Das „Time Magazine“ kürte die verzweifelte Mutter erst kürzlich zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres, da sie nicht aufgebe, die Welt an die Geiseln zu erinnern. Goldberg-Polin und ihr Mann Jon wollen nicht zulassen, dass die Geiseln keine Beachtung mehr im öffentlichen Gedächtnis finden. Am 27. Dezember organisierte die Familie eine große Kundgebung am Flughafen in Tel Aviv, es war der Tag, an dem ihr Sohn und Bruder hätte nach Indien fliegen sollen.
Die Eltern hoffen, dass ihr Sohn seine mindestens einjährige Weltreise bald nachholen kann. Vater Jon sagte in einer Videobotschaft am Mittwoch: „Wir sitzen hier und appellieren an alle Führer der Parteien, die bis dato verhandeln, darunter Katar, Ägypten, die USA, die Hamas und Israel. Seid mutig. Hängt euch rein. Nutzt diesen Moment, um eine Einigung zu erzielen, um uns alle mit unseren Angehörigen zu vereinen und das Leiden in dieser Region zu beenden.“